So schön. Schön war die Zeit
(8)

Einfach traumatisch

Irgendwann die Idee, dass ich meine Träume schreiben könnte. Aufschreiben. Vielleicht wegschreiben. Diese Alpträume. Oder nein: nicht so richtige Alpträume, meistens jedenfalls nicht, nur schwere Träume, verwirrende. auch belastende, so dass ich mit schmerzenden Glieder aufwache, eigentlich gar nicht aufwachen will, dann aber auch nicht wieder einschlafen kann. Immer aufs Neue der Traum des Nicht-Ankommens, dort wo ich ankommen will. In einer riesigen Stadt, die ich kenne, in der ich dann aber doch nicht die Straße finde, die Kreuzung, wo ich abbiegen muss. Ist es der große Wohnblock da vorne mit den Häusern aus dem 19. Jahrhundert? Bürgerhäuser mit Zierleisten an den Wänden aus Stuck oder direkt aus dem Stein gehauen, auch um die Fenster herum, die großen Fenster in den ersten drei oder vier Etagen und oben unterm Dach dann kleinere, vor den Dienstbotenkammern, Häuser aus den Gründerjahren, die sogar den 2. Weltkrieg überstanden haben, ausgebessert, neu verputzt, heute noch so viel schöner als das meiste, was in die ausgebombten Lücken hineingeplattert worden ist, hastig, um Platz zu schaffen für viele hässliche, kleine, enge, niedrige Wohnungen, gebaut mit lauthalsem Stolz auf den schnellen Wiederaufbau nach dem Krieg, Verkleisterung der klaffenden Wunden, diesen unübersehbaren Folgen des gescheiterten deutschen Größenwahns.

Wo will ich überhaupt hin? Habe ich einen Termin? Werde ich erwartet? Beruflich oder privat? Ist es wichtig, da anzukommen, wo ich hin will, hin muss? All das weiß ich nicht in diesem sich immer neu wiederholenden Traum, ich spüre nur, wie ich darunter leide, dass ich da nicht hinfinde, dass ich nicht ankomme. Und es ist doch keine fremde Stadt, ich kenne mich aus hier, immer wieder dieses Aha!, richtig: da drüben!, dort muss ich nach rechts abbiegen, dann ist es nur noch ein paar Minuten, dann...

Und wenn ich aufwache, bin ich wieder nicht angekommen und ich weiß nicht mehr, wohin ich überhaupt wollte. Aber es bedrückt mich, es belastet mich, dass ich nicht angekommen bin, und jetzt, wo ich wach bin, quält mich auch, dass ich nicht weiß, wo ich ankommen wollte und warum. Also schnell aufstehen! Aufstehen, frühstücken, die Dinge erledigen, die ich mir vorgenommen habe für heute, die erledigt werden sollen, schon hätten erledigt werden müssen, gestern, vorgestern, letzte Woche. Oder, wenn es zum Aufstehen noch zu früh ist, noch dunkel draußen, noch tiefe Nacht: Einschlafen! Nochmal einschlafen! Nicht nachdenken. Nicht Probleme wälzen. Keine Fragen stellen, deren Antworten ich ja doch schon längst kenne oder ohnehin nie finden werde. Einschlafen. Mit Hilfe dieser Yoga-Übung, die immer wieder funktioniert, weil sie nur eben diese eine Funktion hat, mich in den Schlaf zu bringen, in den erneuten Schlaf, weg vom Nachgrübeln über diesen schweren Traum da eben oder über andere sinnlose Fragen und absurde Probleme, die ich nicht lösen kann und außer mir sowieso niemand. Also fange ich an einzuatmen, langsam und tief, durch die Zehenspitzen, und dann ebenso auszuatmen, zwei Mal, dann durch den Spann, einatmen, tief und langsam. Und ebenso ausatmen. Und noch einmal. Und dann weiter zu den Knöcheln beider Füße. Und schon längst ist das Unvorstellbare selbstverständlich für mich, dass ich durch alle Körperteile ein- und ausatmen kann. Und die Entspannung stellt sich ein, breitet sich aus in meinem ganzen Körper, ich werde ruhig, gaaanz ruhig, und wenn nicht schon vorher, dann schlafe ich schon bald nach der letzten Übung ein, wenn ich tief und langsam durch meine Schädeldecke ein- und wieder ausgeatmet habe, an nichts denkend die ganze Zeit außer an das "Saaaat" beim Ein- und an das "Naaaaam" beim Ausatmen.

Ja, ja: ich könnte stattdessen auch lesen. So viele Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Aber gelesen haben müsste oder sollte oder schon immer einmal lesen wollte. Sachbücher, Literatur, Krimis, aus aller Welt. Dann aber gerade keine Lust. Weder auf ein Sachbuch noch auf weltberühmte Romane noch auf leichte Unterhaltung, auf keines der Bücher, die ich greifbar habe, die sich neben meinem Bett auf dem Nachttisch stapeln. Stattdessen wieder einmal dieser Wunsch, von Friedrich Hebbel formuliert:

Schlafen, schlafen. nichts als schlafen
Kein Erwachen, keinen Traum
Jener Wehen, die mich trafen
Leisestes Erinnern kaum...  

Und ein paar Stunden später, wenn ich dann wirklich wieder und vor allem traumlos geschlafen habe und dankbar, wenn auch ganz erschöpft, wieder aufwache, werde ich getrieben von jenem quasiprotestantischen Appell, eingebleut in den 80er Jahren auch der deutschen Arbeiterklasse (soweit da noch vorhanden...) von der Deutschrockgruppe "Herne 3": Aufstehn, aufstehn, immer wieder aufstehn, immer wieder sagen: es geht doch! Ja klar, was denn sonst.

Und noch geht es ja auch (1). Verglichen damit wie es anderen geht, die ich kenne oder von denen ich höre oder lese, Ältere, Gleichaltrige, auch viele Jüngere, sind meine Probleme Luxuswehwehchen; meine Alpträume leichte Unterhaltung fürs Vorabendprogramm. Zumal wenn ich sie - wie eben hier - aufgeschrieben habe, vielleicht weggeschrieben, mich frei geschrieben.

Bei uns im Casa Adagio war mal ein mittelaltes Paar zu Gast. Und die Frau saß, kurz nach der Ankunft, auf der Terrasse, vor sich ein Glas Weißwein und den grandiosen Blick auf die unbeschreiblich schöne Hügellandschaft ringsum im letzten Licht der gerade untergehenden Sonne. Und ihre Antwort auf die Frage, wie sie sich fühle hier und heute, die würde ich auch geben, gefragt nach meinem Befinden, wenn ich einmal mehr aufwache nach einer solchen Nacht wie eben beschrieben. Die Frau sagte:

Es ist... also es ist einfach traumatisch...


18. Mai 2012 / 21. Januar 2013

(1) Ergänzung am 16. April 2013: Inzwischen muss ich sagen: Es geht wieder. Es hätte auch schief gehen können. Ich habe Glück gehabt. Mehr dazu ein anderes Mal.